Montag, 12. September 2016

im falschen Zug

Mal wieder ist es ein Buch, das mich hier zum Schreiben bringt. Harald Welzer, Selbst denken, eine Anleitung zum Widerstand. Ich gestehe, das Buch hat mich erst einmal furchtbar deprimiert. Die Abstrusität der menschlichen Dummheit wird da in seiner ganzen Grossartigkeit präsentiert. Und dann fiel es mir auch überall in meiner Wirklichkeit auf: Poulet für 3.99 Fr! Das neue iPhone 82s! Hurrah, der Nordpol schmilzt, endlich können wir graben! Übrigens wollen wir auch nicht auf Cervelats verzichten - lieber essen wir Cervelats und gucken dann wie wir mit den 7 Metern mehr Meer klarkommen, wenns so weit ist. Zudem würde es uns auch extrem stören, wenn unser Kaffee 5 Rappen mehr kosten tät. Und Steuern möchten wir auch gern abschaffen, denn wen kümmerts schon, was aus uns ALLEN wird? Solange mein Kaffee nicht teurer wird, ist alles ok. Ah, und die grüne Wirtschaft, ja, die nehmen wir schon, aber nur als light-Variante.

Es hat mich im Stillen unglaublich wütend gemacht. Warum sind wir so unheimlich kleinkariert? Ganz ehrlich, ich fände es toll, wenn wir mal radikal wären, und zum Beispiel die Lebensmittelpreise realistisch gestalten. Es wär dann teuer, was teuer sein muss, und wir gäben viel mehr Geld für unser Essen aus, was ich super fänd, dann hätten wir nämlich weniger, um für unsinnigen Quatsch zu verprassen, und zudem überlegten wir uns zweimal, ob wir die braun getüpfelte Banane vielleicht nicht doch essen wollen anstatt sie wegzuschmeissen. Oder? Und ja, ich weiss, was macht dann die arme Wirtschaft? Die arme Wirtschaft ist in unseren Händen, und von mir aus können wir gern dazu gezwungen sein, diese komplett zu verändern. Darum gehts übrigens auch im Buch. Wir leben in der heiligen Wachstums-Wirtschaft und Wachstums-Gesellschaft und sind so geblendet von ihrem Pseudo-Heiligenschein dass wir verkennen, was jedes Kind begreift, dass ewiges Wachstum schlicht unmöglich ist.
"Wenn man einem, sagen wir, neunjährigen Kind erklären würden, dass die Erde den Ressourcenhunger der Welt nicht stillen kann, und es nach einer Lösung fragen würde, könnte es zum Beispiel sagen: "Erfindet etwas, das die Menschen kleiner macht, dann reicht die Menge an Ressourcen, die die Erde bietet, für alle." Ein Erwachsener dagegen würde sagen: "Wir müssen wachsen! Ohne Wachstum haben wir keine wirtschaftlichen Möglichkeiten, die Umweltprobleme zu bewältigen!" [...] Man sieht: Erwachsenwerden bedeutet leider oft: dümmer werden."

 Was passiert, wenn wir glauben, unsere Probleme mit Wachstum lösen zu können, wird im Buch ebenfalls anschaulich beschrieben. Zwar sind unsere Autos und Kühlschränke viel effizienter geworden, und gleichzeitig so viel grösser, dass sie unterm Strich mehr verbrauchen ("Rebound-Effekte"). Ökologische Kaffee-Kapseln? Dazu muss ich glaubs nichts sagen. Die grössere Effizienz wird sofort durch vermehrten Konsum (über-)kompensiert. Oder, wie es Volker Pispers ausdrückt: Wir rasen mit einem Zug auf den Abgrund zu, und ab und zu ersetzen wir den Zugführer, aber ein Richtungswechsel kommt nicht in Frage. So wissen wir wenigstens, wo's hingeht.

Und dieses Wachstum ist nicht nur in der Wirtschaft evident, sondern auch in unserem eigenen Leben. Auch wir sollen wachsen, als Persönlichkeit! Und das bitteschön im Lebenslauf gut dokumentiert festhalten und wenns geht auch auf facebook ausführlich darlegen. Wir sind nie fertig, mit gar nichts. Besser schneller schöner reicher höher tiefer ohne Ende. (Ja, ich wiederhole mich.)
Ist es nicht Zeit für ein neues Denkmodell? Für eine neue Wirtschaft, eine neue Gesellschaft, ein neues Leben? Für mich jedenfalls schon.

Und warum reagieren eigentlich alle allergisch auf das Wort Verzicht? Ich verzichte diese Woche zum Beispiel auf Kaffee (weil er mir zu günstig ist...), und merke, dass mir das in mancherlei Hinsicht ganz gut tut. Es tut imfall nicht weh! Das ist ein riesen Drama um gar nichts. Die Lebensqualität schrumpft dadurch um kein bisschen. (Vielleicht steigt sie sogar?)
"Die konkrete Utopie heisst: Zivilisierung durch weniger. Nämlich durch weniger Material, weniger Energie, weniger Dreck. Neugier, Sehnsucht nach anderem, Wünsche und Träume darf es dagegen durchaus mehr geben: Sie sind die eigentlichen Produktivkräfte des Zukünftigen."

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