Dienstag, 24. November 2015

oben und unten und umgekehrt

Die Sache mit unserem Bildungssystem beschäftigt mich weiterhin. Es ist eben vieles verknüpft: Wenn ein Kind in der Schule an einen Mittelwert gebunden wird und sich bloss innerhalb dieses engen Tunnels bewegen darf, kommt es auf der anderen Seite raus und fügt sich in die geradlinige Bahn des Systems ein. Die innerliche Rebellion dagegen ist mit den Jahren einigermassen abtrainiert. Was man dann noch fühlt, ist, dass die Arbeit irgendwie nicht erfüllt, und auch kein Produkt aus der Werbung zum glücklichen Leben führt.
Wenn nun das erste Lebensquartal nicht damit verbracht würde, uns so sehr in die wirtschaftlich erwünschte Form zu pressen, gäbe es noch was anderes, nämlich, wie es Remo Largo formuliert, uns selbst zu finden – unser Potential zu entdecken und zu verwirklichen. Wenn dabei der enge Tunnel zur freien Wildbahn würde, wäre dieser Weg auch nicht so von Angst geprägt. Was ich sagen will: Ein Kind kann sein Potential als Schreiner verwirklichen, oder als Bäuerin, oder als Bankmanager, oder Ärztin, Jurist, oder als Floristin. Das Kind findet seinen Platz dort, wo es hingehört – nicht da, wo es die besten finanziellen Aussichten hat. Und wenn diese Potential-Entwicklung nicht so sehr von unserem System gebremst würde (indem eben möglichst ALLE Kinder nach möglichst weit „OBEN“ kommen sollen), würden wir vielleicht auch begreifen, dass oben und unten völlig falsch verteilt sind, und es ändern: oben ist, wo sich Potential entfalten kann. Vielleicht würde uns dann auch einfallen, dass wir als Gesellschaft unser System selbst in der Hand haben, und z.B. Geld und Status so verteilen können, wie wir es richtig finden.
Die ganze Geschichte interessiert mich vermutlich zum Teil, weil ich viel Zeit in diesem vielversprechenden Tunnel verbracht habe und am anderen Ende planlos und etwas verwirrt herausgestolpert bin. Konkret sehe ich, dass ich eine gute Schülerin war. Was heisst das? Dass ich unheimlich gut darin war, mich ans herrschende System anzupassen. Es heisst nicht, dass ich eine gute Lernerin war, und am wenigsten heisst es, dass ich herausgefunden habe, was ich bin. Im Gegenteil – ich vermute mittlerweile, dass diejenigen SchülerInnen, die in der Schule keine guten Noten schrieben, nicht immer, aber oft verstanden, dass die Noten nichts mit ihnen zu tun haben. Sie taten dann einfach das, was sie sowieso gerne tun und scherten sich nicht allzu sehr um Bewertungen. Ich denke, ich habe nun ein bisschen Glück, weil ich die gerade Strasse irgendwann so öde fand, dass ich nicht weiter wollte. Stattdessen habe ich mich erst mal dem ganzen Druck entzogen, „etwas zu werden“, und kapiert, dass die Existenzangst meiner meisten Mitmenschen (und meine eigene) ein blasses Gespenst ist. Ich kann so einfach überleben, und muss gar nirgends hin. Vielleicht kann ich jetzt anfangen, herauszufinden, was ich bin und was ich damit anfangen möchte. Und wenns dann noch ein paar Jahre dauert, braucht sich niemand zu wundern.
Für diejenigen, die's auch interessiert:
Verschenkte Vielfalt (Remo Largo und Claus Leggewie): Wann Leben und Lernen gelingen
Alphabet - Angst oder Liebe (Film)
R.D. Precht: Anna, die Schule und der Liebe Gott (Buch)
André Stern: Und ich war nie in der Schule (Buch)

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